Ein Handbuch für den Moment, in dem niemand mehr weiß, was er tut (Ausgabe für fortgeschritten verwirrte Lebensformen)
In dem uns bekannten Universum gibt es nur wenige Dinge, auf die man sich absolut verlassen kann: die Lichtgeschwindigkeit, die Schwerkraft – und die Momente im Projektleben, in denen man die Gewissheit hat, dass niemand, aber auch wirklich niemand, weiß, was gerade passiert. Hier greift das physikalische Grundgesetz des Managements: Je mehr man plant, desto größer wird der Anteil des Ungeplanten.
Man könnte meinen, Unsicherheiten seien Fehler, Inkompetenzen und Ungenauigkeiten, die von der Realität und Jira-Ticket-Dschungeln schamlos ausgenutzt werden. Tatsächlich aber sind diese Unklarheiten das natürliche Habitat von Projekten. Ungewissheiten sind das Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sich das Projekt-Raumschiff bewegt. Wenn man sie ausmerzen wollte, verschwände das Projekt gleich mit – so wie ein Hamster, der versucht, seinem Laufrad zu entkommen, indem er es abschraubt.
Doch hieran lässt sich bereits erahnen: Unsicherheit ist nicht der Feind. Sie ist ein stiller Partner mit erstaunlichem, wenn auch manchmal morbidem Sinn für Humor.

Kapitel 1: Der Urknall des Fortschritts
In vielen Projekten gibt es diesen einen magischen Moment, in dem man feststellen muss, dass die schöne Ordnung, die man sich vorher doch so schön zurechtgelegt hatte, nicht funktioniert.
Gewisse Ökonomen, pathetische Anhänger der Dramatik, die sie sind, nennen das, was nun als nächstes passieren muss, ganz nüchtern die „schöpferische Zerstörung“.
Denn Neues kann zuweilen nur entstehen, wenn man das Alte in Trümmer legt…
Wer Neues schaffen will, muss Altes loslassen. Das gilt beispielsweise für Routinen, Checklisten und Excel-Vorlagen, die seit drei Versionen niemand mehr verstanden hat.
Eine derart radikale Veränderung kann sich zunächst wie ein massiver Kontrollverlust anfühlen – doch in Wahrheit markiert sie nur den Moment, in dem neue Möglichkeiten entstehen; die Zerstörung bildet Produktivität, und Kreativität akkretiert sich aus der Zersprengung von Routine. Unsicherheit zwingt zur Bewegung, und Bewegung ist die Voraussetzung für alles, was später als Innovation aufblüht.
Kapitel 2: Der Fall der verschwundenen Konzeptionsphase (oder: die Illusion der Planung)
Planung ist der Versuch, Chaos durch Tabellen zu zähmen. Sie erfüllt ihren Zweck, weil sie Orientierung, Struktur und psychologischen Halt bieten kann. Projekte beginnen häufig mit der tröstlichen Vorstellung, dass man den Weg kennt. Man malt hübsche Balkenpläne und adrette Gantt-Diagramme und nennt diese „Roadmap“ – alles präzise genug, um Selbstvertrauen zu erzeugen, aber flexibel genug, um spätestens in Woche drei obsolet zu sein.
Pläne verhalten sich zur Realität wie ein Wetterbericht zum All: formal korrekt, aber irrelevant, sobald man den Orbit verlässt. Man sollte sich immer bewusst sein, dass Planung kein Schutzschild gegen Überraschungen darstellen kann. Sie ist lediglich ein Kompass, kartiert jedoch nicht das Gelände selbst. Und während man noch versucht sich zu orientieren, hat jemand anders die Straße verlegt. Man behalte sich jedoch im Gedächtnis, dass man ohne Kompass, ohne „Roadmap“, nicht nur auf unbekanntem Terrain, sondern zusätzlich auch im Nebel umherirrt. Unser Planungskonzept dient als Leuchtfeuer auf dem unebenen Weg durch das bewegte Gelände, deckt Fehler auf und lenkt Entscheidungen.

Kapitel 3: Verantwortungsschwerkraft und Führungskosmos
Wenn nichts klar ist, geschieht etwas Erstaunliches: Menschen beginnen, eigenverantwortlich zu handeln. Nicht, weil sie müssen, nicht, weil sie wollen, sondern weil das entstandene Vakuum ansonsten alles verschluckt. Unsicherheit aktiviert eine Form von Gravitation: Sie zieht Handlung an.
Oder, wie irgendwo irgendein Teammitglied sagte, bevor dieses versehentlich die Projektlenkung erfand: „Ich habe gewartet, dass mir jemand sagt, was zu tun ist. Dann fiel mir auf, dass dieser jemand ich sein muss.“
Unsicherheit wirkt wie ein Filter: Sie trennt zwischen Mitfliegern und Passagieren. Wer sich bewegt, verändert das System. Wer stehen bleibt, wird von ihm bewegt. So wie Sterne entstehen, wenn Staub unter Druck gerät, entwächst Führung aus purer Notwendigkeit.
Führung ist ein seltsames Phänomen. So bemerkt man sie oft erst, wenn sie fehlt. In Momenten, in denen Verträge schweigen und Zuständigkeiten sich gegenseitig misstrauen, erscheinen sie plötzlich – nicht, weil jemand sie bestellt hat, sondern weil sie gebraucht wird.
Es bedeutet, Struktur zu bringen, obwohl andere zur gleichen Zeit lieber diskutieren würden; es bedeutet, die Schultern zu straffen, die Ärmel hochzukrempeln und als erste Person am Strang zu ziehen, selbst, wenn alle anderen noch in den Hausschuhen stecken. Bedenke: Führung ist weder Titel noch Recht. Sie entsteht nicht aus Hierarchie, sondern aus Handlung. Sie ist eine spontane Dienstleistung an die Situation.

Kapitel 4: Die produktive Unruhe – Energie aus purem Zweifel
Projekte lieben Sicherheit: Pläne, Verträge, Checklisten. Doch paradoxerweise lähmt genau diese Sicherheit den Fortschritt. Wo Bewegung ist, entsteht Reibung – und wo Reibung entsteht, ruft jemand sehr bald „Konflikt!“ (oder, wie einige es auch gerne nennen: Kommunikation mit erhöhter Spannung). In Projekten gilt das oft als Fehlermeldung, doch tatsächlich ist es ein Vitalzeichen.
Streit ist oft das Vorspiel zur Erkenntnis. Konflikte sind normal, unvermeidlich und – bei guter Pflege – ausgesprochen nützlich. Sie haben die charmante Angewohnheit, Ordnungslücken zu beleuchten, die man vorher für Dekoration hielt. Sie zwingen Gruppen dazu, ihre Interessen sichtbar zu machen und verhindern, dass kollektive Höflichkeit in allgemeine Stagnation umschlägt. Wo Funken fliegen, wird schmerzhaft sichtbar, dass Prozesse fehlen, Dokumentation veraltet ist und Kommunikation sich als Mythos entpuppt.
Unsicherheiten verkanten, zischen, biegen oder brechen. Sie irritieren, zwingen zu Entscheidungen; sie erzeugen Energie. Und zwar genau die, die man braucht, um Neues zu schaffen. Indem man Strukturen neu definiert, Rollen klärt und Transparenz schafft, verwandelt sich Unsicherheit in Klarheit – nicht, weil sie verschwindet, sondern weil sie verstanden wird.
Ein gutes Projekt ist nicht das, in dem alles geplant war.
Es ist das, in dem man nach dem Ungeplanten klüger ist.
Kapitel 5: Struktur – Die Ordnung aus Staub und Daten
Menschen lernen selten, wenn alles glattgeht. Lernen entsteht, wenn jemand „Hoppla“ sagt und anschließend herausfindet, warum. In der Galaxis der vertrackten Projekte heißt das „Lessons Learned“, was meist bedeutet: „Wir wissen jetzt wenigstens, wie man es nicht macht.“
Unsicherheit zwingt zum Denken, und Denken ist eine unterschätzte Managementkompetenz.
Wenn man beginnt, Ordnung zu schaffen, zerfällt die Nebelmauer, und das Projekt beginnt, Gestalt anzunehmen. Das Chaos bekommt Form.
Nun sieht es fast so aus, als wäre das alles Absicht gewesen…
Unsicherheit ist die Trainerin, die das Projektuniversum in Bewegung hält. Man muss sie nicht mögen – aber man sollte ihr zuhören. Wer sie nicht nur schlicht managt, sondern clever nutzt, schafft eine Kultur, in der Vertrauen, Flexibilität und Dialog echte Stärken werden. Das Universum mag unberechenbar sein, aber das ist seine Art, uns mitzuteilen, dass der Raum zum Wachsen da ist.
Unsicherheit ist der Treibstoff, der das Raumschiff Projekt tatsächlich abheben lässt.


