Keine Zeit, kein Plan – nur Wunderland

Das Chaos-Kartenspiel: Teil 1

Alys wurde es allmählich leid, neben ihren Teammitgliedern am Planungs-Ufer zu sitzen und nichts zu tun. Ihr Projekt war kein gewöhnliches Projekt. Seine Anforderungen wechselten stetig die Farben wie ein Chamäleon, das über eine Mosaik-Wand rennt, seine Ressourcen verschwanden wie Kaninchen in dem Hut eines verwirrten Zauberers, und die Deadline raste wie ein entgleister Zug auf sie zu.

Alys wusste nicht, wohin – alles bewegte sich, alles drehte sich, ihr Team stand Kopf …

Die Pläne lagen vor ihnen, fein säuberlich gefaltet wie Origami-Kraniche, doch kaum sollten sie ausgesprochen werden, flogen sie davon und entschwanden, als hätten sie nie existiert. Das Team, vorher so sorgfältig organisiert und koordiniert, brach förmlich in sich zusammen wie ein fragiles Kartenhaus. Inmitten dieses Chaos tat sich plötzlich ein dunkles Loch auf, und Alys fiel, fiel in den dunklen Bau, das Kartenspiel wirbelte aufgewühlt um sie herum, und sie stürzten gemeinsam hinab in die Tiefe – hinunter, hinunter, hinunter. Da blieb Alys nichts weiter übrig, als sich dem Flug ins Ungewisse hinzugeben.

Als sie schließlich landete, fester Boden und verwirrte Spielkarten unter ihren Füßen, sah sie auf und schaute umher.

„Was für ein sonderbarer Ort“, murmelte sie, als sie in der ansonsten undurchdringlichen Dunkelheit die nebulös wabernde Tür erblickte, direkt vor ihrer Nase und bleich schimmernd. Sie war mit einem hölzernen Schild versehen, auf dem stand: „Willkommen im Projektwunderland – Struktur verboten, Überraschung garantiert.“

Alys fasste sich ein Herz, die umherliegenden Spielkarten berappelten sich und folgten ihr leise schwebend, als sie festen Schrittes durch die Tür trat.

Kaum stand sie auf der anderen Seite, tauchte eine weiße, flauschige Gestalt neben ihr auf. „Zu spät! Zu spät!“, rief der Hase hektisch, tippte wild auf einem Tablet in seinen Pfoten herum und zupfte nervös an seinem Frack. Aus seiner Westentasche fiel eine fanatisch tickende Taschenuhr. „Die Deadline naht!“, keuchte die Uhr und tippte warnend mit dem Zeiger. „Was tun, was tun?“, raunte der Hase, seine Uhr tippelte, sein Tablet fiepte ungeduldig. „Der Dienstleister spricht in Rätseln! Kein Plan, keine Ressourcen, das Kartenhaus ist futsch – keine Zeit, keine Zeit!“

„Wie wär’s mit Improvisieren?“, schlug Alys vor, während die Karten um ihren Kopf herumschwirrten wie eine aufgebrachte Moskitowolke.

Der Hase blickte auf, die schimmernden Knopfaugen geweitet. „Improvisieren, ja! Aber nicht einfach so, nicht ohne Plan!“

„Ich dachte, genau darum ginge es?“, staunte Alys und stemmte die Hände in die Hüften. Dem Hasen sträubte sich der schneeweiße Pelz, sein Näschen zuckte anklagend. „Flexibel sein, ja, aber nicht wahllos – im Moment entscheiden, aber clever, mit Geschick. Du musst die Karten richtig spielen –“

„– aber ich kenne das Blatt nicht!“

„Kein Hindernis! Das Haus kann sich nicht selbst zusammenbauen, aber sie werden sich auch nicht irgendwie zusammenfügen – es ist ein Gemeinschaftstanz, kein Marionettentheater.“

Die Spielkarten wandten sich aufgeregt in der Luft und umkreisten heiter Alys’ Kopf. Sie beobachtete sie nachdenklich und reckte ihnen eine Hand entgegen. „Was kann ich tun?“, fragte sie den Hasen, der immer hibbeliger von einer Pfote auf die nächste trat.
„Keine Zeit zu verlieren! Es ist doch keine übrig!“
„Aber –“
„Wir müssen uns sputen: der Tee wird kalt. Keine Zeit!“

Alys folgte ihrem weißen Gefährten und seiner brabbelnden Taschenuhr. Sie folgten einem unscheinbaren Pfad in der Dunkelheit, durch silbrigen Struktur-Nebel, an sich windendem Dienstleister-Geflecht und verwirrten Struktur-Pilzen vorbei. Nachdem sie einem bunten Weber-Knecht zum Fuß eines bewaldeten Berges gefolgt waren, vernahmen sie das fröhliche Stimmengewirr ihrer heiteren Teegesellschaft.

Als Alys auf die von federnden Büschen gesäumte Lichtung trat, drang das Klirren von Porzellan und das Flüstern von dampfendem Tee an ihre Ohren. Eine lange, schlaksige Gestalt saß auf einem zu großen Stuhl, der wohl für sich selbst beschlossen hatte, größer zu sein als nötig.

Der Mann trug bunt zusammengewürfelte Kleidung und einen Hut, der nicht nur äußerst selbstgenäht aussah, sondern zudem auch sehr fußnotig erschien. Die andere Gestalt an dem schiefen Tisch war so groß wie der Hutschneider, im Gegensatz zu ihm aber rund und haarig – mit grau-braunem Fell, langen Schlappohren und einem fetzigen, perspektivischen Cape. Der Frühjahrshase streckte Alys eine randvolle, dampfende Teetasse entgegen, als er sie sah, und der Schneider lächelte ihr glücklich zu.

„Setz dich, setz dich!“, rief er fröhlich und lud Alys ein, auf dem Stuhl zu seiner Rechten Platz zu nehmen, der sich selbst höflich vor ihr verbeugte. Der weiße Hase hoppelte an ihr vorbei und nahm auf dem vierten Stuhl Platz, seine Taschenuhr noch immer fiepend, sein Tablet in Erwartung sirrend. Das Karten-Set folgte und stapelte sich artig auf dem reich gedeckten Tisch.

„Wir waren gerade dabei“, begann der Hutschneider, „über die Wege des Verstehens und das Zusammenfügen subjektiver Sinnwelten zu diskutieren. Eine köstliche Teemischung für den Geist! Sehr würzig.“

Alys runzelte die Stirn. „Das klingt ja beinahe … vernünftig.“

„Umso gefährlicher!“, rief der Frühjahrshase und schlug mit einer Gabel auf den Tisch, aus der ein Schmetterling entwich.

Der Hutschneider korrigierte seine Fußnoten, sodass sie nun schräg auf seiner Stirn lagen, und fuhr fort: „Zuerst geben wir unseren Gedanken eine Form, auf die sich alle einigen können – sie werden zu Dingen, zu Tassen, zu Uhren, zu Regeln! Für alle sichtbar, für alle nutzbar.“ Er hielt seine Teetasse hoch, und Alys sah darin lebendige Lettern schwimmen. Wenn sie den Kopf schief legte, ergaben die dampfenden Buchstaben ein sinnhaftes Wort: Objektivierung. „Ein Gedanke, so fest wie Porzellan!“

Das weiße Kaninchen räusperte sich keckernd und legte sein summendes Tablet auf dem Teetisch ab. „Dann soll jeder seine inneren Eindrücke hinaustragen in die Welt. Jede soll ihre Einschätzungen externalisieren.“

Der helle Hase beäugte den Hutschneider und sagte: „Die Tasse ist zu klein.“
„Für meine Finger?“
„Nein, für den Tee.“
„Ich habe zu viel eingegossen.“
„Nicht doch, die Tasse ist zu klein.“
„Gib ihr was vom Konzept-Kuchen.“
„Dann wächst sie doch nicht, sie artet nur aus.“
„Ich lass sie zerschellen und setze sie anders zusammen, dann wird sie vielleicht größer!“

Das Geschirr klirrte nervös, und die Untertasse des Frühjahrshasen, die neben einem großen Servierteller lag, hüpfte Richtung Keksschale und patschte mit ihrer Kante hoffnungsvoll auf einen Perspektiv-Krümel.

Der Frühjahrshase verfolgte den Wortwechsel seiner Teegesellen ehrfürchtig und fügte nun hinzu: „Wenn all die Dinge, die wir geschaffen haben, auf die wir uns geeinigt haben, wieder in uns hineinkriechen – in unsere Gedanken, unsere Handlungen – und uns von innen verändern. So wird die Welt Teil von uns, und alle tragen dazu bei, dass sie sich aufbaut.“

Er zerkrümelte einen Keks und bestäubte seine Untertasse, die den Keksstaub prompt internalisierte und ihr Porzellan in ein kleines Hämmerchen verwandelte. Der Frühjahrshase überreichte den Hammer seinem weißpelzigen Kollegen, dieser schwang ihn gegen die Tasse des Hutschneiders. Der wiederum nahm die Scherben in seine Hände, presste sie zusammen und knetete und formte die Teile, bis etwas Neues entstand.

Die neue Tasse, ebenmäßig und golden, hatte die Größe einer Müsli-Schale und grinste, frisch geformt, reihum die Teegesellschaft an. „Ein schönes Konzept“, nickte der weiße Hase. „Sehr hübsch“, sagte der andere Nager. „Und ohne Boden – jetzt wird sie nie überlaufen!“, ergänzte der Hutschneider vergnügt.

Alys dachte nach und betrachtete die endlose Teetasse. Ihre Finger glitten beiläufig über die Tischdecke, die über ihre Knie floss und sich wie lebendiges Pergament anfühlte. „Aber warum erzählt ihr mir das alles?“

Der Hutschneider sah sie nun mit ungewöhnlich ernstem Blick an.
„Weil, meine Liebe, das ganze Wunderland nichts anderes ist als ein Spiel dieser drei Kräfte. Aber die Rote Regentin hat das Projekt in Trümmer gelegt und verhindert, dass unsere Wirklichkeiten sich wieder aneinanderfügen. Nur du kannst den Verfall jetzt aufhalten und unsere Sinnwelten retten. Wenn du es schaffst – durch das ungewisse Labyrinth und an der Regentin vorbei –, wird der Nebel hier verpuffen, und du kannst durch den Reflexionsspiegel zurück und das Chaos hinter dir lassen.“

„Wie finde ich den Weg durch das Labyrinth?“, fragte Alys, die durch die plötzliche Enthüllung etwas überwältigt schien. „Spontanität. Du musst schrumpfen oder wachsen, wie es sein muss.“

Alys runzelte die Stirn und nippte nachdenklich an ihrem Tee. Sie schluckte. Er schmeckte nach Verantwortung und Rosenblättern. Bittersüß. Aufregend. Ein leichter Wind wehte. Die Bäume flüsterten verheißungsvoll. Der weiße Hase zuckte, als er dem Drang widerstand, seine Taschenuhr zu konsultieren. Schließlich hatte Alys all ihre Entschlossenheit gesammelt und erhob sich. „Ich werde den Weg finden.“ Die Teegesellschaft strahlte ihr ermutigend entgegen.

Mit einem letzten Blick auf die verrückte, wunderbare Tafel wandte Alys sich dem Weg zu, der zwischen Geröllrosen und Gedankenspielen zum Labyrinth führte….

(Fortsetzung folgt)