Das Chaos-Kartenspiel: Teil 2
Der Pfad zum Irrgarten war weder gerade noch besonders verlässlich. Er schien Alys zu beobachten – sich zu kräuseln, wenn sie zögerte, und sich zu strecken, wenn sie entschlossen vorging. Die Spielkarten, die ihr wie flatterhafte Gedanken folgten, tuschelten in knisterndem Papierflüstern: „Links ist rechts, rechts ist falsch, falsch ist richtig!“ – „Oder war’s umgekehrt?“ Schon bald erhob sich vor ihr eine hohe, schattenwerfende Heckenwand, deren Blätter im Takt ihrer eigenen Zweifel zitterten. Ein gewundener Torbogen öffnete sich wie ein gähnender Mund vor ihr.
Der Garten schien beinahe lebendig; seine dichten Heckenwände blähten und schrumpften im Takt einer unhörbaren Melodie, die Wege waberten unentschlossen umher, verfestigten und verschwanden nach Lust und Laune, die Gänge verschlangen sich ineinander oder stoben voneinander weg, sie eskalierten und stürzten ein und wurden zudem streckenweise von dichten Wolken und Nebelschwaden verdeckt. Aus den laubbedeckten Wänden drang aufgewühltes Gemurmel, die fahrigen Stimmchen erklangen als unverständliche Projektberichte und Alys musste widerwillig schmunzeln. Sie atmete tief ein. Über allem hing ein Duft von abgestandener Planung.
Plötzlich ein Rascheln. Auf einmal tauchte ein Schatten neben ihr auf, ein dunkler Schemen mit flauschigem Fell, leuchtenden Augen und einem unnatürlich breiten Grinsen. Die Gestalt schnurrte grollend, legte den Kopf schief und nickte Alys zu, halb ermutigend, halb feixend. „Wohin des Weges, grrrr?“ schnurrte die Katze.

„Ich suche den Weg zur Regentin“, sagte Alys vorsichtig. „Oh, das tun viele. Aber kaum einer sucht den Weg von ihr weg.“ Das Grinsen der Katze wurde noch breiter. „Natürlich bist du verloren. Aber das ist gut so, prrrr. Nur wer sich verliert, kann das finden, was er nicht gesucht hat.“ Alys schüttelte den Kopf und sah hinüber zu dem Gewirr aus Hecken und Nebel.
„Weißt du, wie ich durch diesen Irrgarten gelange – ich kenne den Weg nicht!“ sprach Alys in Richtung der gebleckten Zähne. „Wrrrr“ machte der Kater, „das tut niemand, nicht wirklich.“ „Das ist nicht sehr hilfreich“, schnaubte Alys, doch dem Kater verging das Grinsen nicht. „Du gelangst nur hindurch, indem du hineingehst. Du kennst den Weg, sobald du ihn gegangen bist – das muss reichen. Hrrrr,“ schnurrte der Kater, und bevor Alys noch etwas erwidern konnte, löste sich die Katze in Wohlgefallen auf.
Alys überlegte und besah sich ihr Hindernis erneut. Dann, ganz spontan, kam ihr eine Idee, ja, Inspiration. Sie presste die Augen fest zu und ging federnden Schrittes auf die dichten Hecken zu. Das Spielkarten-Set folgte ihr zunächst zögerlich zuckend, doch blieb dicht über ihrer Schulter, als sich Alys geradewegs durch den Nebel wagte. Nichts hielt sie auf. Nichts versperrte ihr den Weg vorwärts.
Nach einer Weile vernahm sie etwas Neues; einen Geruch, der sie an feuchtes Laub und Lavendel erinnerte. Sie schlug die Augen auf und sah rauchige, violette Schwaden, die sich jedoch nicht mit dem verschleiernden Verfallsnebel vermischten. Die Quelle dieses ominösen Dampfes war eine kleine, bläulich schimmernde Raupe, die vor ihr auf einem gummiartigen Pilz saß und eine moosbewachsene Pfeife in einem stummeligen Arm hielt. Die Raupe paffte farbige Schwaden in die Luft und sprach mit schläfriger Wichtigkeit: „Ah… auf dem Weg zur Regentin? Jaah, jaa…. Alle suchen nach Autorität.“ Der Pfeifenrauch kringelte sich zu einer Krone, und zerplatzte. „Aber sag mir: wer bist du? Willst du wirklich finden, was du suchst? Oder suchst du nur, um nicht stillzustehen?“

„Ich will das Wunderland retten.“, sagte Alys bestimmt und dachte an die Worte der Teegesellschaft. „Ich will die Königin entthronen und den Nebel lichten.“ Die Raupe sog genüsslich an ihrer Pfeife. „Nebel“, sagt sie langsam und gedehnt, „er verbirgt, was wirklich ist. Ihn zu lichten heißt, das Unsichtbare sichtbar machen – und das Sichtbare zu verändern.“ Die Raupe lächelte gediegen. Als sie Alys verständnislosen Blick sah, sagte sie: „Du wirst die Regentin in ihrem Garten finden.“ Mit einem letzten tiefen Zug hauchte sie einen Rauchring in Alys’ Richtung.
Der Ring schloss sich um sie, und hüllte sie in Dunkelheit.
Im nächsten Moment schon schwand die Finsternis. Alys blinzelte. Vor ihren Augen formte sich ein glitzernder Garten.
Er hätte schön sein können, doch anstelle eines munteren Blühen fand sich der Ort in eisigen Scherben wieder. Die Pflanzen waren allesamt gefroren und brüchig, ein paar schwache Tierchen aus schwarzem Rauch und träge triefendem Schall krochen durch die sterbenden Büsche. Das einzig Lebendige hier war die große Gestalt, die mit einer matten Gießkanne zwischen den Pflanzen umherlief und unablässig mehr Kälte in die Beete goss, die zudem von schweren steinernen Mauern umzäunt waren. Die Regentin trug eine scharlachfarbene Krone aus starren Linien und eine fädige Robe, die von eisernen weißen und roten Mustern geschmückt war. Sie hätte eindrucksvoll aussehen können, wäre sie nicht von etlichen Löchern durchzogen aus denen dicker, schwarzer Verfall troff.
Über ihren Kopf hatte die Königin eine schleiernde Kapuze gezogen. Ihr Gesicht, ihre Augen waren von undurchdringlichem Nebel verschleiert. Blind rannte sie in ihrem Garten umher und tat, was sie wohl immer tat: sie wässerte die Pflanzen, stutzte Zweige und Blätter, entwurzelte kleine Pflänzchen, die sie wohl für Unkraut hielt und fütterte den fleuchenden Verfall.
„Der Garten stirbt!“, platze es aus Alys heraus. Die Rote Regentin nahm sie kaum zur Kenntnis. „Wer bist du schon? Ein Nichts.“, sprach sie mit kalter Stimme.
Die Spielkarten, die Alys bis hier hin treu gefolgt waren, zitterten bei diesen Worten und stapelten sich hektisch hinter ihrem Rücken. „Majestät,“ versuchte Alys die Regentin zu besänftigen. „Ihre Realität ist verschmiert. Ihr Garten verfällt. Es ist Zeit, Ihre Prozesse neu zu denken.“
Die Rote stutze einen zerdrückten und gefrorenen Rosenstrauch, sodass ein paar erstarrte Blüten zu Boden fielen. Sie zerschellten auf der gehaltlosen Erde. Sie schenkte den Scherben keine Beachtung und ging blind zum nächsten Beet hinüber. „Diesen Garten gibt es schon länger, als es dich gibt, kleine Chaotin. Ich pflege ihn so, wie ich es immer getan habe“, murmelte sie und goss mehr Wasser über eine mitleiderregende Orchidee, die daraufhin gänzlich in dem rasch erstarrenden Eis verschwand.
„Der Garten hat sich gewandelt, Königin“, versuchte es Alys erneut und machte ein paar Schritte auf die uneinsichtige Gestalt zu. „Es ist Zeit, dass Sie dasselbe tun. Sehen Sie.“

Alys hob eine geschundene Rosenblüte vom Boden und hielt sie der Monarchin direkt unter die verschleierte Nase. Diese drehte sich jedoch eilig weg und ließ mehr gefrierendes Wasser über die Pflanzen zu ihren Füßen laufen. Ungeduldig entriss Alys ihr die Gießkanne und warf sie beiseite. „Schluss mit Routine – Tradition wird dieses Chaos nicht mehr auftauen!“ „Chaos ist Versagen!“, schrie die Rote und bäumte sich vor Alys auf. Die starre Krone verrutschte auf ihrem Kopf.
Alys machte ein paar Schritte rückwärts und hob beschwichtigend die Hände. Das Kartenspiel erhob sich und flackerte nervös um ihrem Kopf herum. „Chaos ist lebendig“, entgegnete Alys der anderen und deutete umher. „Der Garten könnte prächtig blühen – stattdessen liegt er im Sterben. Schauen Sie hin.“
Die Rote Regentin hielt inne und Alys redete weiter. „Die Beete müssen neu angerichtet werden: so wachsen sich die Blumen gegenseitig in den Weg. Dieser Strauch dort braucht ein Spalier, an dem es sich hochziehen kann, und das da – “ sie deutete auf ein paar traurig dreinschauende Blüten zu ihrem Füßen, „das ist kein Unkraut, sondern Amarant. Sie sollten sie nähren, nicht entwurzeln. Und diese Mauern um die Beete herum, die müssen weg; sie behindern das Wachstum der wilden Erdbeeren dort.“
Die Regentin stand noch immer reglos inmitten ihres gefrorenen Gartens, während Alys in demselben umherlief, angespornt von den kleinen Spielkarten, die umherbrausten und ihr Ideen zuflüsterten. Sie verschob Beete, arrangierte die Büsche, verzierte die Töpfe und delegierte die Blumen. „Weg mit dem Verschleierkraut!“, rief sie voll Elan, „es ist Zeit für Ritteransporn!“
Die Regentin regte sich, als sie den Trubel der Veränderung wahrnahm. Ganz langsam und zögerlich nahm sie die Kapuze von ihrem Gesicht und schlug die Augen auf. „Meine Ritus-Ranunkeln! Die Strukturrosen! Wo sind die Traditioneen?“ Halb entsetzt, halb beeindruckt schaute sich die Rote in ihrem Garten um, der nun völlig anders wirkte.
Alys schaute zu der enthüllten Gestalt – und sah ihr eigenes Gesicht in dem der Königin. Wie ein Spiegel schaute sie sich entgegen. Alys lächelte und antwortete sich selbst: „Deine Knospen sind nicht fort. Sie sind nur woanders; etwas weiter hinten und ein wenig gestutzt. Stattdessen habe ich dieses rotierende Wildblumenfeld angelegt.“
Etwas steif drehte sich die andere herum und blickte erneut umher. „Aber… Unordnung…“, stammelte sie hilflos. „Entfaltung“, erwiderte Alys und die Spielkarten nickten eifrig. „So kommen sie alle zur Geltung, alle tragen etwas Eigenes bei.“
Die Rote Regentin verharrte auf der Stelle und besah sich die üppigen Beete. Nach einer Weile murmelte sie „So charismatisch. So clever. Inspirierend.“ Und schließlich atmete sie tief ein und ein echtes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit, Akzeptanz so einladend und herzlich, dass es auch den Rest des Eises taute und die Luft angenehm erwärmte.
Die Karten applaudierten flatternd, als die Rote ihren Umhang abnahm und ihn Alys über die Schultern legte. Als er sich um sie legte, lösten sich die starren Linien auf dem Stoff und bildeten ein buntes, dynamisches Muster. Das Kartenset, das Alys bis hier hin treu gefolgt war, schwirrte noch einmal um ihren Kopf herum, fügte sich anschließend in das Gewand und füllte die Löcher, sodass kein Verfall mehr sichtbar war.
Nun da Alys die geflickte, verantwortungsvolle Robe trug, vernahm sie einen wohligen Duft nach Tee und süßem Gebäck wahr und aus dem Irgendwo drang ein tiefes Schnurren an ihre Ohren. Das Wunderland war einverstanden…

(Noch nicht das Ende…)

